Von Siegfried Letzel
Dank Samuel Hahnemanns konnten wir in den vorangegangenen Artikeln zur Serie schon einiges über die Entwicklung moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse im 18. und 19. Jahrhundert erfahren. Dr. Hahnemann als Chemiker, Pharmazeuten und Arzneikundigen haben wir bereits kennengelernt. Heute streifen wir einen Bereich seiner ärztlichen Tätigkeiten, den er zwar nur am Rande, jedoch geradezu revolutionär anders als seine zeitgenössischen Kollegen ausübte: die Psychiatrie.
Die Behandlung psychisch Erkrankter wurde im Jahre 1792 so beschrieben: „Die gewöhnlich im Zuchthaus untergebrachten Irrenhäuser sind im Allgemeinen so eingerichtet, dass diese Elenden nur ernährt und nur in einer solchen schauderhaften Verwahrung erhalten werden, dass sie sich und anderen kein Leid tun. Durch rohe und verkehrte Behandlung durch die Wärter werden sie nur noch wahnsinniger und unheilbarer.“ 1824 las man: „Am größten war der Skandal, wo die ‚Thiermenschen‘ übernachteten, die auf Strohsäcken lagen, wollene Decken und Zudecken hatten, wo das durch den Urin schon bald durchbeizte und verfaulte Stroh nur gelegentlich gewechselt wurde. Man denke sich den Gestank in diesem Saale.“ Die im Geiste Erkrankten waren üblicherweise in Ketten gelegt. Neben den Ketten regierte die Peitsche.
Ärzte begegneten widerspenstigen Kranken wie wilden Tieren, sie wollten bei ihnen Angst, Schrecken und Entsetzen erzeugen. Körperliche Züchtigungen, sogenannte Ekelkuren waren alltäglich. Tobsüchtige wurden beispielsweise auf ein horizontales Bett geschnallt, das mit großer Schnelligkeit um die senkrechte Achse gedreht wurde, oder sie wurden auf den ‚Drehstuhl‘ gesetzt. 1818 stand in der ‚Zeitschrift für psychische Ärzte‘: „Die Empfindung ist im höchsten Grade unangenehm und der Gesunde kann sie nicht über einige Minuten aushalten. Es entsteht Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Blutung in der Augenbindehaut. Die Maschine wirkt umso wohltätiger, je größer die Empfänglichkeit des Kranken, je unangenehmer und lästiger ihm die Anwendung ist!“
In einem Lehrbuch schreibt Westphal 1880: „Eine als gut eingerichtete Irrenanstalt erscheint in gewisser Beziehung einer Folterkammer nicht ganz unähnlich.“ So sah es zu jener Zeit auch in der ‚Irrenabteilung‘ der Berliner Charité aus. Dort wurden Manische auch in einen „geschlossenen Sack“ gesteckt und in diesem an Ort und Stelle liegen gelassen. „Geisteskranke wurden Sonntagsbesuchern von Hospitälern und Arbeitshäusern als eine Art Sport gezeigt und zum Vergnügen der Besucher gereizt“, so Westphal.
Hahnemann therapierte nur sehr wenige schwer psychisch Erkrankte. An einen sehr gewaltsamen Patienten kam er einfach nicht heran und musste den Fall aufgeben. Aber eine recht gut dokumentierte Behandlung zeigt uns, wie Hahnemann auch jene Patienten fürsorglich behandelte, die schwerste Verhaltensstörungen zeigten. Er handelte nach seinem Motto: „Nie lasse ich einen Wahnsinnigen je mit Schlägen oder anderen schmerzhaften körperlichen Züchtigungen bestrafen, weil es für Unvorsätzlichkeit keine Strafe gibt, und weil diese Kranken bloß Mitleid verdienen und durch solche rauhe Behandlung immer verschlimmert, wohl nie gebessert werden.“
1792 wurde der Staatsbeamte und Autor Klockenbring in Begleitung dreier starker Männer Hahnemanns Behandlung zugeführt. Der Patient befand sich in einem besorgniserregenden Stadium geistiger Umnachtung. Während seiner bisherigen Therapien hatte sich sein Zustand immer weiter verschlimmert.
Hahnemann ging folgendermaßen vor: Zunächst tat er nichts anderes, als seinen Patienten zu beobachten. Dieser hatte ständig Anfälle der Raserei, brach in tosendes Gelächter aus, verfiel in grässliches Gebrüll. Auch nachts lief er ständig auf und ab und brüllte. Alleine gelassen redete er leise vor sich hin. Er zerriss immer wieder seine Kleider und sein Bettzeug, bemalte sein Gesicht… Angeblich aß er manchmal neben anderen Speisen 10 Pfund Brot täglich. Wohl haben diese Völlerei und sein reichlicher Weingenuss die Entwicklung der Krankheit unterstützt.
Hahnemann wendete sowohl Arbeits- als auch Gesprächstherapie an. Er ließ Klockenbring Gedichte schreiben und Klavier spielen. Dieses hatte Klockenbring – wie einiges anderes zuvor – zerlegt und wieder sonderbar zusammengefügt. Durch Geduld und menschliche Zuwendung gewann der Arzt Vertrauen und Zuneigung des Kranken.
Nach Monaten hatte sich der Krankheitszustand so weit gebessert, dass ihn seine Frau besuchen wollte. Hahnemann lehnte das Ansinnen ab, da er einen Rückschlag seiner Therapie befürchtete. Im folgenden Jahr aber durfte die Gemahlin den geheilten Patienten nach Hause holen. Er aß nun recht mäßig und benahm sich recht gefällig.
Dankbar und unter Tränen hatte Klockenbring Hahnemann die Reste der Schwielen von Stricken gezeigt, deren sich frühere Wärter bedient hatten, um ihn in Schach zu halten.
Der Dresdener Schauspieler und Vorstand unseres Vereins ANDREAS JUNG schrieb und spielt diese Episode im Leben des weltberühmten Arztes in seinem Einmann-Stück „Hahnemann und Klockenbring“. Die „SÜDDEUTSCHE ZEITUNG“ beschreibt seine schauspielerische Leistung: „Andreas Jung, dessen Mimik ungeheuer ausdrucksstark war, spielte den irren Klockenbring intensiv. Er brüllte, spuckte, schlug um sich. Kaum wiederzuerkennen war er in der Rolle von Hahnemann, in sich ruhend und würdevoll.“