Von Siegfried Letzel
Die Arzneikunde war bis zum Erscheinen von Samuel Hahnemann eine reine Erfahrungswissenschaft mit zum Teil überlieferten Kenntnissen, aber auch viel Imaginärem. Die Vorgänge, die sich im menschlichen Körper abzuspielen schienen – in Gesundheit und Krankheit – wurden in Systeme gezwängt, welche von einzelnen Köpfen nach deren Beobachtungen ausgedacht waren.
Bei L. Hoffmann entstanden die meisten Krankheiten durch faule und saure Säfte, die entfernt werden mussten. Laut Kämpf hatten Krankheiten ihren Sitz im Unterleib und wurden durch ‚Infarkte‘ verursacht. Sehr verbreitet war John Browns Philosophie. Er beanspruchte für sich, als erster die Arzneikunde als ‚Lehre der Natur‘ wissenschaftlich gemacht zu haben. Jeder Mensch hatte bei ihm einen bestimmten Grad der Erregbarkeit. Ein richtiges Maß davon versprach Gesundheit. Ein Übermaß (Sthenie) oder Mangel (Asthenie) bedeutete Krankheit. Der Arzt musste die Erregbarkeit regulieren und tat dies mit sthenischen und asthenischen Arzneimitteln. Reizreduzierend waren Aderlass, Kälte, Erbrechen, Abführen, Schwitzen. Sthenische Mittel waren Fleisch, Wärme, Verhinderung des Erbrechens, Purgierens und Schwitzens durch Fleischkost, Gewürze, Wein, Bewegung, oder für stärkere Maßnahmen mit Moschus, Kampfer, Äther und Opium. Anatomiekenntnisse waren von geringerer Bedeutung. Ein Arzt musste demnach am Krankenbett nur drei Dinge wissen: Ist die Krankheit örtlich oder allgemein? Wenn allgemein, dann sthenisch oder asthenisch? Wie stark ist die Ausprägung der Krankheit? Und jetzt braucht es nur noch den Behandlungsplan mit der entsprechenden Arznei/Therapie. Eine Diagnose war überflüssig.
Zeitgleich hatten die Naturphilosophen Hochkonjunktur. Sie erklärten Dinge wie „Magnetismus ist Verwandlung des Sauerstoffs und Wasserstoffs in Kohlenstoff und Stickstoff“, oder „Sauerstoff ist das Prinzip der Elektrizität“. Selbst Alexander von Humboldt war unter den Naturphilosophen.
Mitte des 18. Jahrunderts (Hahnemann war erst geboren) schrieb der Gelehrte Haller: „Das Blut besteht aus gleichen Theilen, ist gerinnbar, umso röther, je besser das Tier genährt ist; in einem schwächlichen, hungrigen Thiere ist es gelblicht….“. 1789, Blumenbach: „Das Blut ist eine Flüssigkeit seiner Art, von bekannter, bald stärkerer, bald schwächerer Farbe, beim Befühlen klebricht, warm und ist unter die Geheimnisse der Natur zu rechnen“. 1803: „Das Blut besteht aus 9 Theilen: Dem riechbaren Stoff, dem fadenartigen Theile, Eiweißstoff, Schwefel, Gallerte, Eisen, Laugensalz, Natrum und Wasser. Die Grundstoffe sind Wasserstoff, Kohlenstoff, Salpeterstoff, Grundstoff der Salzsäure, Phosphor, Schwefel, Oxygene, Kalkerde und Eisen“. Dies war ein aus heutiger Sicht bescheidener, für die damaligen Verhältnisse dennoch enormer Fortschritt in die richtige Richtung.
Ein Prof. Reich erpresste sich vom König von Preußen eine jährliche Pension von beachtlichen 500 Talern, indem er erst dann sein Geheimmittel gegen Fieber verriet. Eine 5-köpfige Familie brauchte damals um die 180 Taler im Jahr. Das Fieber sollte durch das Mittel ‚plötzlich abgeschnitten‘ werden. Im Herbst 1800 wurde es bekannt: Das Fiebermittel bestand aus Schwefelsäure und Salzsäure. Unter Umständen ginge aber auch Salpetersäure… Eine Kommission von Ärzten in der Charité fanden dies ‚probat in einer Anzahl von Fällen‘.
Es gab es zahlreiche bunte Behandlungsmethoden: stärkende, schwächende, antagonistische, restaurierende, adstringierende, relaxierende, derivierende, deobstruierende, resolvierende, antimiasmatische, antiseptische, antigastrische u.a. – mit entsprechenden Arzneimitteln: versüßende, verdünnende, auflösende, verdickende, blutreinigende, kühlende, ausleerende, schleimeinschneidende usw. Oft wurden 8-10 davon in einem Rezept vermischt. So waren Ärzte untereinander sehr verstritten, frustriert und fühlten sich in ihrer Kunst im Stich gelassen. Warum wirkten Arzneien nicht? Und wenn doch, was an der Medizin war heilsam? Warum war die Wirkung des Mittels immer unterschiedlich und unberechenbar?
Hahnemann erging es ja nicht besser. Aber er suchte selbst nach Lösungen aus dem Dilemma. Aus der Chemie wusste er das Prinzip: zwei Arzneimittel gleichzeitig verabreicht haben nicht zwei Einzelwirkungen, sondern eine dritte gemeinsame. So begann Hahnemann in seiner Praxis eine Reform, die er auch in Artikeln medizinischer Journale vorschlug, nämlich immer nur ein Mittel zu verabreichen. Dies war für die einfachen Menschen mit ihren eigenen traditionellen Hausmittelchen schon lange üblich. Hahnemann formte ein System daraus. Er und andere Bereitwillige nahmen REINE, ungemischte Arzneien am gesunden Körper ein (wie schon Dioscorides im 1. Jahrhundert!) und beobachteten die Veränderungen an sich. Als Erster in der Medizingeschichte ergründete er so die REINE Wirkung von Stoffen am Menschen und sammelte die ‚Vergiftungsgeschichten‘. So schrieb er 1805 seine erste, zweiteilige, auf lateinisch verfasste Arzneimittellehre, in der er seine Ergebnisse systematisch auf 739 Seiten akribisch ordnete. Diesen Datenbestand nutzte Samuel Hahnemann für seine neue, auf den Patienten maßgeschneiderte – also individualisierte – Arzneitherapie, die er zeitgleich bis 1810 entwickelte und dann in seinem Organon der rationellen Heilkunde vorstellte.