[ Siegfried Letzel ]
1857 erschien ein Lehrbuch von G. H. G. Jahr unter dem Titel „Die Lehren und Grundsätze der gesamten theoretischen und praktischen Homöopathischen Heilkunst“ als apologetisch- kritische Besprechung der Lehren Hahnemanns und seiner Schule. In Paragraf 14 ab Seite 33 teilt er uns seine Gedanken darüber mit, dass das homöopathische Ähnlichkeitsgesetz Similia similibus curantur durchaus nicht immer durchgängig gültig zu sein scheint und für Kritiker durchaus angreifbar ist. Das brachte ihn auf die Formulierung der Heilformel, die das Ähnlichkeitsgesetz als Heilgesetz untermauert.
Jahr: Nicht nur die schulmedizinischen Gegner der Homöopathie, sondern auch Vertreter der Homöopathie haben vielfach die Frage aufgeworfen, ob die sogenannten homöopathischen Heilungen, welche mit verhältnismäßig kleinen Gaben und nach symptomatischer Mittelwahl vollbracht werden, auch wirklich nach dem Gesetz Similia similibus curantur vor sich gehen. Ja sind die Arzneien in der Tat überhaupt im Stande, bei Gesunden eine Krankheit zu erzeugen, die der ähnlich ist, die sie heilen? Hahnemann beruft sich für die Aufstellung des Ähnlichkeitsgesetzes als Heilprinzip zuerst auf eine große Menge von Fällen der bisherigen Schule der Medizin. Er weist nach, dass ein Einzelmittel, das sehr schnell heilte, dies deshalb vollbrachte, weil es den Zeugnissen anderer Ärzte nach imstande ist, bei Gesunden ein ähnliches Leiden hervorzubringen. Nach Erfahrung aller homöopathischen Praktiker steht so viel fest, dass unter geeigneten Umständen fast jedes Mittel auch das zu heilen im Stande ist, was es hervorbringen kann. Nur, und auch Hering hat das bemerkt, und die tägliche Erfahrung bestätigt das ebenso, diese Übereinstimmung findet eben doch nur unter geeigneten Umständen statt und keineswegs immer und unbedingt. Sehr viele Mittel bringen hervor, was sie nie heilen, andere wiederum heilen, was sie nie hervorbringen.
Wer sich mit der Arzneimittellehre beschäftigt hat, dem wird es nicht entgangen sein, dass sich unter den Zeichen fast aller Mittel gewisse Erscheinungen immer wieder vorfinden. Man denke an Schnupfen, Weißfluss, Durchfall, Verstopfung, Bauchschmerzen, Zahnschmerzen, Kopfschmerzen. Oft erscheinen diese Zeichen sogar auf recht auffallende Weise. Zuletzt sind es aber nur sehr wenige dieser Mittel, und unter diesen oft gerade solche, die jene Erscheinungen eben nicht im auffallendsten Grad darbieten, die sich vorzugsweise spezifisch gegen dieselben zeigen. Möchte man nun dagegen einwenden, dass alle die genannten und andere ähnliche Erscheinungen meist nur durch dasjenige Mittel geheilt werden können, welches außer der symptomatischen Erscheinung auch die ganze Krankheit hervorbringt, auf der jene Erscheinung beruht, so mag man in vielen Fällen wohl recht haben, in anderen aber auch wieder nicht. Denn wir heilen sehr viele ganze Krankheiten, wie z. B. Keuchhusten, Krupp, Scharlachfieber, Masern, Menschenpocken, Nervenfieber, Lungenentzündungen usw. mit Mitteln, die zwar mehrere Symptome der genannten Krankheiten, keineswegs aber die gesamte Krankheit zu erzeugen im Stande sind. Selbst die Chinarinde, das zufällige Mittel, das Hahnemann im Selbstversuch auf die Idee des Ähnlichkeitsprinzips gebracht haben soll, bringt mehrere der Erscheinungen hervor, die in Sumpfwechselfiebern zu finden sind. Aber nur bei etwas gutem Willen lässt sich ein solches auch aus den Symptomen zusammensetzen, die sie in Gesunden erzeugen kann. So für jedermann erkennbar, wie es die Natur kann, erzeugt die Chinarinde wohl nie jenes Wechselfieber, außer man zählt die mit ihr behandelten und verschleppten langwierigen Wechselfieber dazu. Und was letztlich die von ihr erzeugten Symptome betrifft und aus denen sich ein Wechselfieber zusammensetzen lässt, so finden sich diese zuletzt in der Tat noch bei sehr vielen anderen Mitteln, welche noch nie Wechselfieber geheilt haben und auch nie heilen werden. Dazu kommt noch, dass andere Mittel, in denen jene Symptome viel weniger auffallend auftreten als bei der Chinarinde, gewisse Wechselfieber oft viel schneller und besser heilen, als diese. Erst wenn wir seine Anwendung am Krankenbett untersucht haben, steht fest, ob das betreffende Mittel die in seinen Symptomen angedeutete Krankheit auch in der Tat heilen kann oder nicht. Alleine aus den positiven Arzneiwirkungen können wir dies nie mit Sicherheit schließen.
Und das, was wir hier von der Chinarinde und den Wechselfiebern gesagt haben gilt für fast alle Krankheiten und die gegen sie angewendeten Mittel, welche Hahnemann aus dem Erfahrungsschatz der alten Schule anführt. Allerdings bringen diese Mittel wesentliche Symptome der genannten Krankheiten hervor, heilen sie aber keineswegs immer. Andere Mittel, welche dieselben Symptome hervorbringen, heilen diese Krankheiten sogar nie. Somit ist dieser Teil der Beweisführung Hahnemanns für die Richtigkeit des Ähnlichkeitsgesetzes eben nicht gerade die Stärkste. Er hat vielleicht recht gutgetan, ihn in der fünften Auflage des Organons ganz wegzulassen. Nichts desto trotz ist etwas wahres an jenen Beobachtungen und an dem in ihnen vorherrschendem Gesetz, obwohl es durch viele Begleitumstände verschleiert wird und in den oben angeführten und anderen Fällen nicht so deutlich in Erscheinung tritt wie in denen, welche Hahnemann dem täglichen Leben und der allgemeinen Erfahrung entnimmt. Denn, wer kann ihm widersprechen, wenn er behauptet, dass der Schnee die erfrorenen Glieder besser wieder herstellt als die äußere Wärme? Heilt nicht äußere mäßige Hitze verbrannte Teile schneller als kalte Umschläge? Stillt nicht ein kleines Glas geistigen Getränkes den durch Sonnenhitze erzeugten Durst schneller und dauerhafter als ein frisches Glas Wasser?
Wenn sich auch in den vorhin erwähnten Fällen das Ähnlichkeitsgesetz auch nicht so bestätigt findet, wie in den eben genannten Beobachtungen der Hauspraxis, und auch wenn viele Mittel Erscheinungen hervorbringen, die sie nie heilen: Es gibt eine Unzahl anderer Fälle, in denen die auffallendsten Wirkungen der Mittel den ausgezeichnetsten Erfolg gegen solche Krankheitserscheinungen erbringen. Opium ist berühmt wegen seiner einschläfernden Kraft und fast nie versagt eine kleine Gabe ihren heilsamen Dienst in den durch betäubten Schlaf ausgezeichneten Zuständen. Der Schwefel, der bekanntlich eine Menge Ausschläge hervorbringt, wenn er im Übermaß gebraucht wird, heilt auch in der Tat viele von diesen. Was Quecksilber im gesunden Körper hervorbringen und am Kranken heilen kann, weiß jeder. Belladonna, Stechapfel, Bilsenkraut, Schierling und noch andere Narkotika, deren hirnangreifende und verrückt machende Wirkung hinlänglich bekannt ist, sie haben in der Praxis ihre Heil bringende Kraft schon in einer Unzahl von Hirnleiden und Verstandesverwirrungen bewiesen. Dasselbe gilt für Kupfer, Veratrum, Arsenik und Phosphor bei Cholera und noch vielen anderen Mitteln gegen andere Krankheiten. Dennoch müssen wir auch eingestehen, dass wir oft dabei enttäuscht werden, wenn wir von einem Mittel nichts als seine positiven Wirkungen kennen und daraus auf seine ausgezeichnete Wirksamkeit in ähnlichen Krankheitserscheinungen schließen wollen. Andererseits ist es wiederum wahr, dass jedes mal, wenn wir ein neues Mittel gegen eine Krankheit finden, dies nur dadurch geschieht, dass wir uns durch die auffallende Ähnlichkeit seiner Wirkungen mit den Symptomen der Krankheiten leiten lassen. Der Erfolg entspricht umso mehr unseren Erwartungen, je mehr die wesentlichen Wirkungen des Mittels den wesentlichen Symptomen der Krankheit gleichen.
Schließlich sehen wir Fälle, in denen Mittel Krankheiten heilen, welche sie nie hervorbringen, ja nicht einmal hervorbringen können. Aber auch hier lässt sich stets nachweisen, dass wenigstens eine oder einige der wesentlichen Wirkungen des Mittels den wesentlichsten und eigentümlichsten Erscheinungen des vorliegenden Falles entsprochen haben. Demnach sind wir völlig berechtigt, mit Gewissheit anzunehmen, dass in Fällen, in denen ein ähnlich scheinendes Mittel seine Dienste versagt, die Schuld nicht an der Unzulänglichkeit des Gesetzes, sondern daran liegt, dass wir das Wesentliche entweder in den Wirkungen des Mittels oder in den Symptomen der Krankheit – wenn nicht gar in beiden zugleich – im Vorfeld verkannt haben.
Und wenn dem so ist, so bleibt das Ähnlichkeitsgesetz oder das Similia similibus curantur als ein untrügliches Heilgesetz für alle Fälle stehen, für welche ähnlich wirkende Mittel herauszufinden sind. Es ist, um es richtig zu verstehen und anzuwenden, nur nötig, die Heilformel klar und deutlich zu definieren. Sie lautet nicht: ‚Krankheiten werden durch Mittel geheilt, welche im Stande sind, im gesunden Körper eine höchst ähnliche Krankheit hervorzubringen‘. Im Gegenteil, sie heißt: ‚Die Krankheiten weichen denjenigen Mitteln, deren wesentliche Wirkungen auf den gesunden Körper den wesentlichen Erscheinungen des Krankheitsfalles am treffendsten entsprechen.‘